Zeichnen: Linien ziehen, die so tun als ob...
Als ob sie etwas Fernes zurückholten, etwas noch nicht Definitives in die Zukunft hineindeuteten...
Als ob sie etwas Bestimmtes formten... BG

«Kaléidoscope» im Centre Pasquart, 4. 7. – 6. 9. 2020: Béatrice Gysin stellt kleinere Zeichnungen und Objekte den 17 Heliogravuren aus Markus Raetz’ Portfolio Ombre (2007) gegenüber. Sorgfältig wählte die Künstlerin bestehende Arbeiten aus ihrem eigenen Archiv aus, in denen sie Parallelen, Ähnlichkeiten oder Wahlverwandtschaften zu Raetz’ grafischer Arbeit fand. Installativ auf Tischen präsentiert, bildet die Kombination einen Kontrast, doch die Frage nach dem Sehen begleitet beide Kunstschaffenden, welche die tägliche, zur Routine gewordene Wahrnehmung mit ihren Werken hinterfragen. Entstanden ist ein stiller und poetischer Raum, der einlädt, den Blick über zeichnerische Texturen und hügelige Landschaften von Alabaster schweifen zu lassen, den präzisen Linien zu folgen und Formen, die immer wieder auftauchen, zu entdecken. Die Gegenüberstellung fordert von den Betrachter*innen ein intensives Hinsehen, in dem erst sich Narrationen, Entsprechungen oder sinnliche Begegnungen eröffnen können.

Stefanie Gschwend, Kunsthaus Centre d’art Pasquart

Zu Beginn gibt es weder Koordinaten noch Höhenlinien. (Das heisst: kein Nord, Süd, Ost, West.) Eine Fläche namens Null. (Nichts ist da. Alles ist da.) // Eine Farbe bricht die Fläche. Eine Farbe über der Farbe. Eine Farbe über der Farbe über der Farbe. Eine Kante. (Die Möglichkeit des Fallens. Die Möglichkeit des Fliegens.) // Es gibt Erhebungen, Vertiefungen, doch es gibt keinen Massstab, keinen Vergleich. (Millimeter, Kilometer und so fort.) Es könnte sein: Stufen, Schatten, Schichten. Abgelagerte Zeit. // Und immer wieder: die vagen Ränder. Dort, wo nicht klar ist, ob etwas endet oder ob etwas beginnt. // Verborgen: das Verlorene, Vergessene, noch nicht Erfahrene vielleicht. // Das Verhältnis zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten. Von aussen nach innen oder von innen nach aussen. (Vermut­lich gibt es eine Landschaft im Innern des Schnees. Ähnlich der Landschaft im Innern eines Steins, der Landschaft im Innern eines Baums.) // Vom Faustkeil auf den Fels schliessen. Oder vom Fels auf den Faustkeil. (Das heisst: Es gibt Begrün­dungen, aber keinen Beweis.) // Eine Farbe weitet die vagen Ränder aus. Die Farben über der Farbe verändern die Höhen, die Tiefen. Kanten, die sich ebnen. Mulden, die erst jetzt entstehen. // Das Verlorene hat eine Länge, eine Breite, eine Tiefe. (Die Suche nach dieser Länge, dieser Breite, dieser Tiefe.) // Die Bewegungen der Farben. Vielleicht gibt es Geräusche hinter den Bewegungen der Farben. // Das Archiv der Vermutungen. // Eine geordnete Sammlung dessen, was nicht sicher ist. (Sortiert nach Alphabet, nach Länge, Breite, Tiefe, nach Farbe, nach Vagheit der Ränder zum Beispiel.)

Bettina Wohlfender, im Katalog «Archiv der Vermutungen»,
Museum Franz Gertsch, 2016

Zur Werkgruppe «Notate»: Die Künstlerin skizziert gerne vor Ort in ( ) Museen. ( ) Plötzlich fiel ihr auf, dass sie zeichnend doch oft von denselben Details und Auffälligkeiten angezogen wurde und diese herausgriff – Aspekte der Kleidung, einer Geste, Symbole – und dass sie dabei das Gefühl hatte, dass es sich um Ikonografien, gewisse Codes handelte, die wir heute gar nicht mehr zu lesen imstande wären. Was konnten die Betrachter der damaligen Zeit hier erkennen und herauslesen? Was bleibt uns heutigen Betrachtern verborgen? Wieder hinter­fragt Gysin zeichnerisch die sichtbare Welt – transferiert in fragilge Werke, bei denen der Bleistiftstaub auf dem fachmännisch karierten Papier sitzt. ( ) Wieder wird das Nichtwissen thematisiert, das Schwimmen in den Vermutungen – hier beim Zeichnen unbekannter Dinge. ( ) «Ich weiss, dass ich nicht weiss» – das geflügelte Wort der Antike, von Cicero Sokrates in den Mund gelegt, vermag vielleicht am zutreffendsten die bei reiflicher Betrachtung episdemologischen und potenziell auch weisen Arbeiten von Béatrice Gysin zu charakterisieren, die dasjenige hinterfragen, was wir zu sehen und zu wissen meinen.

Anna Wesle, Ausschnitt aus Katalogtext «Archiv der Vermutungen»,
Museum Franz Gertsch, 2016

Béatrice Gysins Zeichnungen sind Verortungen der Präsenz der Zeichnerin, in letzter Konsequenz Flächen ohne erkennbare Bedeutung, oder – wie sie sie nennt – «Topografien intensiv gelebter Ereignislosigkeit». Die Künstlerin verortet ihre Wirklichkeit im Geviert des Zeichenblatts. Wenn etwas Erkennbares angedeutet wird, öffnet sich ein weites Assoziationsfeld. Die Betrachtenden sind konsti­tu­ierender Teil der Arbeit, in dem sie sich auf das Abgleichen von Wahrnehmung mit dem individuellen Erinnerungsfundus einlassen. Die Unschärfe bleibt. Die Fragen sind inspirierender als Antworten. Zeichnungen sollen offene Fragen bleiben. BG