Satellite Berlin | Buch zum Thema «was unterhält mir meine Kreativität» | KünstlerInnenbefragung | 2015

«nulla dies sine linea» Die täglichen Rituale, die Bedeutung der Routine, oder: «Was mich einstimmt» Kit Schulte und Rebecca Blum, die Kuratorinnen von «Satellite Berlin», befragen KünstlerInnen, Autoren, WissenschaftlerInnen, Philosophen, mit welchen Ritualen sie ihre Kreativität lebendig erhalten. Daraus entstand eine Publikation. Darin mein Beitrag:

»Was mich einstimmt»
Seit Jahren sammle ich morgens die Haare in meinem Kamm und forme sie zu Kugeln. In ca. 2-3 Wochen entsteht auf diese Weise eine kleine Haarkugel.

Dieses Ritual enstand vor Jahren aus dem Entschluss heraus, das Verstopfen des Ablaufs im Wasserbecken und vor allem das ekelhafte Entstopfen desselben zu verhindern. Daraus wurde für mich mit der Zeit eine bedeutungsvolle Handlung. Mit der einfachen Geste – dem Sammeln und Formen von Haaren zu einer kleinen Kugel – beginnt seither mein Tag. Sie stimmt mich ein auf Kontinuität, Zeitdauer, Geduld, Wachsamkeit. Eine Handlung, die darin besteht, etwas absolut Wertloses – sich im Kamm verhedderte Haare – in etwas für mich Kostbares zu verwandeln. Die langsam über eine unbestimmte Zeitspanne hinweg sich formende kleine Kugel stimmt mich seither täglich ein ins Handeln und Denken.

Ich sehe, dass ich wachsam bleiben muss: Veränderungen bedürfen der kontinuierlichen Aufmerksamkeit. Wenn ich nachlässig bin, ist rasch die alte Unordnung wieder hergestellt: Das Abflussrohr verstopft. Also muss ich dranbleiben. Die Handlung erfordert tägliche Wiederholung.

Ich sehe, wie die Zeit fliesst. Die Kügelchen werden immer mehr. Es ist totes Material. Es sind meine Haare. Ich sehe Vergänglichkeit in »homöopathischen Dosen».

Eine einzelne kleine Kugel ist ein Linienkonglomerat. Ein Linien-Knäuel. Ein Wirbel um eine Mitte herum. (Ein Satellit?) Eine räumliche Zeichnung, die eine bereits abgeschlossene Zeitspanne bezeichnet.

Ein zweites Ritual betrifft das Ankommen im Atelier: Storen hochziehen, Licht an, auf dem Zeichentisch die Spuren des Vortags finden. Die Spitzabfälle, die Werkzeuge, das Papier. Vielleicht eine bereits begonnene Zeichnung. Der kritische Blick. Weiterzeichnen. Wachsam sein. In der Mitte des Morgens eine Kaffeepause.

Wenn es stockt: Manchmal hilft der Blick in die Pflanztöpfe vor dem Atelier. Was wächst denn da? Heute schaut mich der Helleborus an. Und die Schneeglöckchen. (Diese Kraftwerke, die unbeirrt durch den Schnee hindurch in die Höhe wachsen). Dass die nicht frieren? Bei den Pflanzen Zeit verplempern.

Manchmal hilft es zu schauen, was ich früher gezeichnet habe, vor ein paar Monaten, vor einem Jahr, vor einigen Jahren. Wie verläuft die Spur? In welche Richtung. Nach-denken.

Manchmal hilft es zu schauen, was andere machen. Zeit mit Büchern verbringen. (Oft wieder mit den selben). Oder in Museen durch die Säle wandern, um nach Verwandtschaften, nach Überraschungen, Gegenpositionen zu suchen. «Wo gibt es etwas für mich?» Oft sind es Details, die mich anhalten. Irritierendes, Skurriles, Befremdendes, Unerwartetes. Oder es zieht mich wieder zu jener Gruppe von Malereien, die ich bereits x-malangeschaut habe, zu jenem Farbfleck, zu jener Geste, zu jenem Blick, zu jenem Pinselstrich. Erscheinungen, die ich stets wieder aufsuche und die mich nähren. (Les Primitifs français, im Louvre, z. Bsp.). Zeichnungsausstellungen sind für mich Energie-Tankstellen: Es ist unwichtig, wie alt die gezeichneten Spuren sind, denen ich mit den Augen folge. Unmittelbar kann ich in ihren Zeitraum eintreten. Die Entstehungskraft einer Linie erscheint ungebrochen. Sie zeigt das Tempo auf, in dem sie gesetzt wurde. Die Erscheinungsformen der Linien lassen mich mitschwingen oder mitzittern, mitzögern, je nachdem... Derart beschenkt mit Energie fremder Zeichnerinnen und Zeichner, kann ich wieder eintauchen in mein eigenes Tätigsein.

Manchmal hilft gegen das Stocken auch das Ordnen der Dinge als nützliche Ersatzhandlung: Die Stifte in die Schachtel. Das Blau zum Blau. Das Grün zum Grün. Den Tisch abwaschen, und die Spitzabfälle entsorgen. Die in Schachteln gelagerten Zeichnungen chronologisch stapeln. Die Neuordnung aussen bewirkt auch Neuordnung innen, schafft freien Denk-Raum.

Welche Rolle spielt die tägliche Routine?
Der Begriff «Routine» trifft nicht auf meine Arbeitshaltung zu. «Routine» verstehe ich als fraglose Könnerschaft, als technische Versiertheit. Ich beginne meine Zeichnungen jedoch meist ohne zu wissen, wohin mich die Reise den Linien entlang führen wird, in welchem Ausmass sich Flächen ausbreiten werden. Trotz der Intension zu Beginn in eine bestimmte Richtung, trotz einer Absicht, begleiten mich stets auch Nichtwissen, Zweifel und Offenheit wie sich die Dinge entwickeln werden. Die aufscheinende Spur wird kritisch und mit Neugier beobachtet.

Während ich hier diese Gedanken aufschreibe, frage ich mich: Vielleicht ist es auch nicht wichtig, «täglich» zu zeichnen? Vielleicht genügt es, wachsam zu bleiben. Bereit. Warten, bis sich etwas vordrängt. Bis das Denken ins Handeln umschlägt. Es gibt diesen inneren Film, der nie abbricht. Vielleicht genügt es manchmal, «zeichnen zu denken».

Wichtig sind für mich die Verwandtschaften, die Momente der Übereinstimmung. Sie begegnen mir manchmal plötzlich in einer Melodie, in einem Klang, in einem Satz. Oder ich finde sie in einem Satz, in einer literarischen Stimme. Manchmal ist es auch ein Ort, oder die Fotografie eines Ortes, der mich atmen lässt. Orte von grosser Weite und Ereignislosigkeit. Am liebsten schneebedeckt. Wenn es schneit, arbeite ich mit Leichtigkeit. Eigentlich warte ich das ganze Jahr auf den Schnee.

Vielleicht sind alle meine Rituale zur Einstimmung, zum Fokussieren auf die Arbeit, Ersatzhandlungen in Erwartung auf das chaotisch wirbelnde Schneien, auf das Weiss, das die Welt vor meinem Atelierfenster in ein weisses, unbezeichnetes Blatt verwandelt... Eine Verwandlung, die beflügelt.

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