Buchobjekt «zeichnen denken» | Verlag Liberati Bern | 2014

Aus: «zeichnen denken»
Vierter Versuch

Ich will etwas zeichnen, das nur vernebelt in meiner Erinnerung existiert. Die Erinnerung ist eine vage Empfindung. Sie oszilliert zwischen Kopf und Bauch. Es gibt kein abrufbares Bilderlager im Kopf. Der Bleistift wird zum Seismographen, zum Spurensucher. Die Zeichnung, die sich andeutet, verlangt nach wechselnder Präsenz. Ich überlasse mich meiner Ahnung von etwas, lasse die Hand den Stift führen, begleite neugierig den Zeichenprozess, schaue, was entsteht. Bin am Zeichnen beteiligt. Doch sogleich schaue ich mir über die Schulter mit kritischem Blick: Was ist es, das da entsteht? Abgleichen mit einem vagen, inneren Bildversatzstück: Geht das überhaupt? Das erinnerte Bild zerbröselt augenblicklich hinter den sichtbar gewordenen Spuren auf dem Blatt.
Grenzüberschreitung.
Es gibt ein fühlendes Sehen. Es gibt ein fühlendes Sehen?

Das Auge ist ein Distanzorgan.
Die Hand das Instrument der Nähe.

Aus: «zeichnen denken»
Achter Versuch

Ich zeichne. Ich zeichne nichts. Nur Linien. Parallel, fein, über das ganze Blatt gezogen. Stundenlang. Tagelang. Wochenlang. Immer dieselben Abstände, möglichst gleichbleibende Linien. Eine Fläche, die langsam und stetig über das Blatt hin wächst. Nichts zeichnen. Einfach am Zeichnen sein. Einfach bei sich sein. Die minimalen Verschiebungen der Linien erzeugen ein kaum sichtbares Muster, kleine Bewegungen, Atemstösse, eine fein bewegte Fläche.
Ich bin keine Maschine.

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